Vor einigen Jahren entdeckte ich N.T. Wright. Sein Buch “Jesus and the Victory of God“ (Jesus und der Sieg Gottes) ist mit 741 Seiten eine echte Herausforderung zu lesen, aber ich habe es trotzdem sehr interessant gefunden. Einige seiner Einsichten in den ursprünglichen Kontext von neutestamentlichen Texten waren eine echte Überraschung. Als Linguist und Übersetzer ist mir sehr bewusst, wie wichtig es ist, die implizite Bedeutung eines Textes zu kennen, die Dinge die im Text nicht erwähnt sind, aber von den ursprünglichen Empfängern automatisch angenommen wurden. N.T. Wright leistet gute Arbeit, diese unausgesprochenen Informationen aufzudecken. Wenn man dann erst einmal diese „alternative“ Interpretation kennt, sieht man die Dinge mit anderen Augen. Danach ist es teilweise schwierig, die ursprüngliche Sichtweise wieder hervorzuholen.

Vor einiger Zeit (der englische Blogeintrag ist bereits einige Wochen her) las ich im 1. und 2. Thessalonicherbrief als Teil des Bibelleseplans von Christian Assembly in Eagle Rock, Kalifornien. Als ich zu der Stelle kam, wo es darum geht, dass die Gläubigen Jesus in der Luft treffen werden, war es für mich faszinierend zu sehen, dass man den Text mit zwei verschiedenen Schlußfolgerungen lesen kann. Der Text sagt nämlich nichts darüber, was nach dem Treffen passiert. Die Frage ist im Grunde, in welche Richtung wir nach dem Treffen gehen – „rauf“ oder „runter“? Keines von beiden ist ausdrücklich erwähnt. Wenn man also nicht von einer Entrückungs-Theologie beeinflusst ist, dann ist es vielleicht leichter sich als Empfangskommittee für den wiederkehrenden König zu sehen, dass anschließend wieder „runter“ d.h. zurück auf die Erde geht, so wie die fünf Jungfrauen im Gleichnis mit dem Bräutigam ins eigene Dorf zurückgingen.

Natürlich würde das alleine keinen Sinn ergeben, wenn man nicht auch die andere Leseweise von Lukas 17, 34-35 kennt:

Diese Bibelstelle ist die Grundlage für eine ganze Bücherserie die im Englischen “Left behind“ (wörtl. „zurück gelassen“) heißt. (Die deutsche Serie heißt „Finale„.) Wiederum, wenn man die Stelle in Lukas ohne Voreinahme liest, wird man wahrscheinlich merken, dass eigentlich nicht klar gesagt wird, wer „zurück bleibt“ – die Gläubigen oder die Ungläubigen. N.T. Wright legt in seinem Buch dar, dass die Formulierung der juristischen Sprache entspricht – „genommen werden“ bedeutet abgeführt werden, zum Urteil vor Gericht geführt werden (ich zitiere hier aus dem Gedächtnis). Das heißt also, dass nicht die Ungläubigen zurück bleiben, sondern die Gläubigen für die es kein Gericht mehr gibt. Faszinierend, nicht wahr?

Wenn man das zum ersten Mal hört, braucht man sicher einige Zeit um das zu verdauen. Aber wenn N.T. Wright recht hat, und davon gehe ich aus weil er sorgfältig recherchiert, dann wird es keine Entrückung in der Form geben, wie wir es in verschiedenen Gemeinden gehört haben. Eine kurze Version seiner Erklärung gibt es hier (in Englisch).

Comments are closed.