Augen die sehen

Ein afrikanisches Sprichwort besagt:

„Die Augen des Fremden sind groß, aber er sieht nichts.“

Das ist so wahr – in einer fremden Kultur muss man erst lernen, Dinge zu sehen.  Ansonsten schaut man direkt auf etwas, und hat keine Ahnung was man sieht.

Die nachfolgenden Paragrafen sind eine Einleitung zu einer interessanten Buchbesprechung, aber ich war mehr fasziniert von den persönlichen Beispielen in der Einleitung:

Als ich auf der Uni war, habe ich einen Kurs bei Toni Morrison belegt, auch Grund ihrer Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Im Dunkeln spielen.“ Die Grundannahme der Kurzgeschichten, und auch von dem Kurs, war, dass die Amerikanische Literatur von Anfang an geprägt war von der unangenehmen Gegenwart von „Amerikanischem Afrikanismus“. Wir brauchen hier nicht auf die Details dieses Arguments eingehen. Ich erwähne es nur, weil ich anfing Bücher anders zu lesen, nachdem ich Morrisons Kurs absolviert hatte. Ich war auf einmal sensibilisiert im Blick auf Randfiguren. Mir fiel auf, wie schwarze Menschen dargestellt wurden, oder wie ihre Anwesenheit vermieden wurde. Mir fielen die Motive von Dunkelheit und Licht auf. Ich sehe mir auch Filme seither anders an, und merke wie radikale Gruppen als Requisiten verwendet wurden statt sie als echte Menschen darzustellen. Der Kurs hat mich gelehrt, Dinge anders zu sehen.

Ein Kind mit Down-Syndrom zu haben, hat mich auch gelehrt, Dinge anders zu sehen.

Ich denke da, zum Beispiel, als ich einmal an einer Konferenz in einem Kloster in Süd-Carolina teilnahm. Am ersten Abend der Konferenz versammelten wir uns zu einer kurzen Bibellesung und Segnung vor dem Abendessen. Ein älterer Mann, einer der Mönche, war zuständig für die Lesung und für uns zu beten. Er ging mit unausgeglichenen Schritten zum Podium und sein Kopf war etwas auf die Seite geneigt. Er stand dann hinter der Bibel und blätterte mit einem verdutzen Gesichts-ausdruck in der Bibel hin und her. Schließlich schaute er einen anderen Bruder an und sagte, „Ich kann 1. Mose 1 nicht finden.“ Der andere Bruder blätterte behutsam zum Beginn der Bibel, und der erste Bruder begann zu lesen. Seine Aussprache war nicht sehr gut. Er stolperte über Worte und sie kamen etwas verdreht heraus.

Ein paar Jahre früher, bevor unsere Tochter Penny geboren wurde, hätte ich mit Ungeduld und Zynismus reagiert. Ich hätte mir gedacht, warum können sie niemanden finden, der lesen kann, oder wenigstens weiß, wo das erste Buch der Bibel zu finden ist?  Aber an diesem Abend, stand ich da, mit gespannter Aufmerksamkeit, und war dankbar, dass ich Gottes Wort von diesem Mann mitgeteilt bekam. Ich konnte ihn als Mitchrist sehen, der ein Segen für mich ist.  Ich war fähig, ihn als Botschafter der Hoffnung zu sehen, und der Vision von einer Gemeinschaft in Christus, die eines Tages meine Tochter inkludieren könnte und sie sogar Gottes Wort öffentlich lesen und für andere beten lässt. (Buchbesprechung in Englisch hier.)

Ihr Beispiel hat mich tief berührt, wie wir lernen Dinge anders zu sehen und dadurch Dinge bemerken, die wir vorher nicht sehen konnten, und zu Schlüssen kommen, die wir vorher für unmöglich hielten. In einer fremden Kultur zu leben, fordert mich heraus genau das zu tun. Mein Interesse in Kulturanthropologie hilft mir natürlich auch dabei. Es ist wirklich erstaunlich, wie wir Dinge anderes interpretieren, wenn wir sie durch die Augen eines anderen Menschen sehen.

Ich erlebte ein ähnliches Aha-Erlebnis als ich die Unterhaltung von Mack und Sarayu in „Die Hütte“ las: (Auszüge von den Seiten 152-156)

„Wenn dir etwas geschieht, wie stellst du dann fest, ob es gut oder böse ist?“
Mack überlegte einen Moment, ehe er antwortete. „Nun, darüber habe ich noch nie wirklich nachgedacht.  Ich würde sagen, etwas ist gut, wenn es mir gefällt – wenn es bewirkt, dass ich mich gut fühle oder geborgen. Und böse würde ich etwas nennen, das mir Schmerzen verursacht oder mich um etwas bringt, das ich gerne habe oder mir wünsche.“
„Dann ist das Ganze also ziemlich subjektive?“
„Ja, das ist es wohl.“
„Und wie viel Zutrauen hast du in deine Fähigkeit, zwischen dem, was für dich gut oder böse ist, zu unterscheiden?“
„Ehrlich gesagt, werde ich – wie  mir scheint, zu Recht – ziemlich wütend, wenn jemand mein ‚Gutes‘ bedroht, das also, was ich zu verdienen glaube. Aber ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ich eine logische Grundlage habe, zu entscheiden, was wirklich gut oder böse ist. Ich kann nur beurteilen, wie es sich auf mich auswirkt.“ […] „Das ist also allez ziemlich egoistisch und selbst-bezogen, nehme ich an. […]“

Er zögerte, ehe er den Gedanken beendete, doch Sarayu unterbrach ihn. „Dann bist du es, der entscheidet, was gut und was böse ist. Du machst dich zum Richter. Und was das Ganze noch verwirrender macht: Das, was du für gut hältst, wird sich mit der Zeit und den Umständen verändern. Und, was noch schlimmer ist: darüber hinaus gibt es Milliarden anderer Menschen, die ebenfalls individuell entscheiden, was für sie gut oder böse ist.  Wenn also dein Gut und Böse nicht mit den Vorstellungen deines Nachbarn übereinstimmt, geratet ihr in Streit oder es brechen gar Kriege deswegen aus.“
[…]
Dann gestand Mack: „Ich erkenne jetzt, dass ich den größten Teil meiner Zeit und Energie darauf verwendet habe, das zu erlangen, was ich für gut hielt, sei es finanzielle Sicherheit oder Gesundheit oder eine ausreichende Altersversorgung oder was auch immer. Und ich vergeude eine riesige Menge Energie und Sorge damit, mich vor dem zu fürchten, was ich für böse halte […]
„Super!“, rief Mack aus. […] „Denn das könnte bedeuten, dass …“
Wider fiel ihm Sarayu ins Wort. „… dass in manchen Fällen das Gute darin bestehen kann, Krebs zu bekommen oder sein gesamtes Vermögen zu verlieren – oder sogar das Leben.“

Immer seit dem ich diese Unterhaltung vor einiger Zeit gelesen habe, fing ich an Dinge anders zu betrachten.  Was ist gut und was ist schlecht für mich? Wie oft beurteile ich Dinge von einem sehr subjektiven Standpunkt? Tatsächlich erinnert mich das an einige Dinge in meine eigenen Leben, die ich als schlecht beurteilte, aber nun fange ich an zu begreifen, dass sie vielleicht Teil von Gottes vollkommenen und liebevollen Plan für mich waren. Egal wie schmerzhaft die Situation war, sie beinhaltete Gutes. Das ist nicht immer leicht, das zu zugeben.

[Es gab einige andere interessante Aspekte in dieser Unterhaltung, aber die habe ich vorerst ausgelassen weil ich sie in einem späteren Blogeintrag aufgreifen will.]

Hast du etwas in dieser Art erlebt, wo du gelernt hast, Dinge mit neuen Augen zu sehen?